Caution: Reading in Progress! We’re all mad here…

Sandra van Lente meldet sich aus London, wo sie zusammen mit Dr Anamik Saha an der Goldsmiths Universität im Projekt „Rethinking ‚Diversity‘ in Pubishing“ aktiv ist. Hier stellt sie kurz drei Bücher vor, die ihren Weg vielleicht nicht unbedingt in den deutschen Buchhandel finden werden (was sehr schade wäre): Bernardine Evaristos Girl, Woman, Other (Hamish Hamilton, 2019), Guy Gunaratnes In Our Mad and Furious City (Tinder Press, 2018) und Zeba Talkhanis My Past is a Foreign Country (Sceptre, 2019).

In Our Mad and Furious City

Greetings from this ‘Mad and Furious City’! Nein, das wird jetzt kein Beitrag über den zukünftigen Prime Minister oder den nicht oder doch bevorstehenden Brexit. Das ist eine Kurzrezension über einen bemerkenswerten britischen Roman, der schon lange auf meinem Stapel lag und den ich nun endlich lesen konnte (den langen Arbeitswegen in London sei Dank): Guy Gunaratne, In Our Mad and Furious City (Tinder Press, 2018).

In Our Mad and Furious City ist Guy Gunaratnes erster Roman, erschienen 2018 bei Tinder Press, einem „literary imprint“ von Headline, das wiederum zu Hachette UK gehört. Der Roman hat u.a. den 2019er Jhalak Prize Website und den International Dylan Thomas Prize gewonnen, war auf der shortlist des Goldsmiths Prize und der longlist des Man Booker Prize, um nur einige zu nennen.

Ich muss ja gestehen, dass ich es sehr mag, wenn ein Roman aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird. Aber das alleine reicht noch nicht, damit ich es auch bis zur letzen Seite schaffe. Guy Gunaratne macht das einfach unglaublich überzeugend in dem Sinne, dass die Charaktere wirklich ihre eigenen Denkmuster und Referenzrahmen haben, ihre eigene Sprache (zum Teil Jugendsprache, zum Teil durch andere Muttersprachen geprägtes Englisch, noch dazu mit class-markern durchwoben). Keine Ahnung, ob das authentisch ist, aber für mich hat es funktioniert (und für viele andere Rezensent*innen, die voll des Lobs waren, auch). Gleichzeitig wirkt das Ganze nicht wie weichgewaschenes ‘Exotisch’ für middle-class readers (mich hat es ein paar mal auch abgehängt, insbesondere die Jungs vom Block, manchmal half nur laut vorlesen). Die Übersetzerin oder den Übersetzer beneide ich nun wirklich nicht.

Neben den Jugendlichen Selvon, Ardan und Yoos liest man sich durch die Gedanken und Erinnerungen von Nelson und Caroline, die die Notting Hill Riots bzw. die Troubles in Belfast in den 1980ern miterlebt haben. So treffen karibisch, irisch und muslimisch geprägte Britinnen und Briten aufeinander, die auf den ersten Blick herzlich wenig miteinander verbindet. Doch es wird immer klarer, wie viel sie tatsächlich gemeinsam haben. So sind das nicht nur ihre Konfrontation und ihr coping mit dem allzeit präsenten Rassismus, sondern auch die Tatsache, dass sie eigentlich gar nicht wirklich mitmachen wollen, wenn Aktivisten und Extremisten aus ihrem Umfeld auf die Straßen strömen. Einige der Reflektorfiguren sind eher die wenig involvierten Zuschauer, von manchen vielleicht auch als Feiglinge gesehen, die sich der Vereinahmung durch die jeweiligen Bewegungen kaum entziehen können und es trotzdem versuchen. Konflikte vorprogrammiert. Doch bei aller Zersplitterung, bei allen Zerwürfnissen und Auseinandersetzungen: am Ende des Tages ist es immer noch “our” mad and furious city – und diejenigen, die von der Mehrheit gerne mal ausgeschlossen werden, claimen sie hiermit ein Stück weit zurück.

Ich denke, der Roman wird noch für viel Gesprächs- und Analysestoff sorgen und es war eine Freude, so einen gut gemachten, sowohl von der Sprache, den Perspektiven als auch vom plot her interessanten Roman zu lesen. Man könnte ohne Weiteres wesentlich längere Texte über Guy Gunaratnes Debutroman schreiben, aber so viel möchte ich jetzt an dieser Stelle gar nicht preisgeben – mein Lesevergnügen hat mit Sicherheit auch geschützt, dass ich noch keine Rezension darüber gelesen hatte und ich empfehle allen dieselbe Herangehensweise – und die Lektüre dieses Romans!

Girl, Woman, Other

Bernardine Evaristos aktueller Roman arbeitet ebenfalls mit unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven und gegen allzu simple Werturteile. Girl, Woman, Other ist 2019 bei Hamish Hamilton erschienen, einem imprint von Penguin Random House, das sich eher am anspruchsvollen Ende des literarischen Spektrums sieht und nur ca. 20 Bücher pro Jahr herausgibt. Zu Hamish Hamiltons Autorinnen und Autoren zählen u.a. auch Zadie Smith, W.G. Sebald, Ali Smith, Susan Sontag, Jonathan Safran Foer und Marlon James. Auf Twitter habe ich gerade gelesen, dass Bernardine Evaristo schon seit etwas 20 Jahren mit ihrem Lektor zusammenarbeitet. Girl, Woman, Other ist das aktuelle Ergebnis.

Und während ich noch überlegte, wie ich das Buch am besten beschreiben könnte, liefert die Autorin selbst so eine knappe und präzise Beschreibung für die großartige Wasafiri, dass ich sie einfach zitieren muss:

Girl, Woman, Other is a polyvocal novel about twelve primarily black British women and their intersecting narratives – capturing the essences of their lives, histories, dramas, complexities, careers, politics and relationships. The women, or rather womxn (one character is non-binary) are distinctly different, range in age from nineteen to ninety-three and are a mixture of classes, sexualities, occupations, cultural backgrounds and UK geographies. The novel is set today but spans over a century. I’ve coined the term ‘fusion fiction’ to best describe the novel’s form. Each woman has her own chapter, but she is also fused into the narratives of some of the other women (for eg, there are four mothers and daughters) mapping a series of interconnected relationships. I also employ a kind of poetic patterning and unorthodox punctuation to create a fluid segueing between the past and the present and with the character’s interiority and exterior reality. The form and the narratives coalesce into a ‘fusion fiction’.” (Bernardine Evaristo in “Wasafiri Wonders”: www.wasafiri.org/article/wasafiri-wonders-bernardine-evaristo)

Was da natürlich nicht steht, ist wie viel Spaß es macht, sich mit den Figuren auf die Reise zu begeben, die Querverbindungen zwischen den Charakteren zu entdecken, die verschiedenen Epochen vor dem inneren Auge aufzurufen und mit ihnen mitzufiebern, wie sie durchs Leben gehen. Bei allem Spaß ist das aber auch oft ganz schön hart, Rassismus und Frauenfeindlichkeit häufige Begleiter.

Bernardine hat nicht nur ein krasses Talent dafür, jeder Figur eine absolut einzigartige Stimme zu verpassen, sondern sie zieht ihre Leser*innen auch innerhalb von wenigen Sätzen so in die Geschichten rein, dass man sich mittendrin wiederfindet, sich mit den Frauen* identifiziert und mit ihnen mitfiebert. Von der anstrengenden Teenagerin (wahnsinnig gut getroffen, ich kann mich tatsächlich an meine eigenen, ähnlich größenwahnsinnigen Gedanken erinnern) bis hin zur desillusionierten Lehrerin, von der Theaterschauspielerin und -autorin bis zur Frau, die in einer echt schrägen, abhängigen Beziehung mit einer selbsternannten Retterin festhängt. Ich bin noch nicht ganz durch, aber ich freue mich schon auf die weiteren Figuren!

Die Perspektiven und Figuren entziehen sich allesamt schnellen Einordnungen und Werturteilen. Alle haben ihre Ecken und Kanten, und doch bzw. gerade deshalb haben sie großes Identifizierungspotential. Und irgendwie habe ich mich dann auch über die Geschichte aus der Perspektive von LaTisha gefreut, die einen Gegenpol zu den Perspektiven ihren Kritiker*innen bildet. LaTisha, der von vielen Seiten so gar nichts zugetraut wird, die in den Nachrichten sicher nur als Fußnote oder Negativbeispiel herhalten dürfte, die sich aber behauptet und einen für sie und ihre vaterfreien Kidner einen guten Weg findet. Keine Chance für irgendwelche stereotypen single stories. Der Roman ist eher ein Kaleidoskop an Geschichten und Charakteren, “vibrating with life”, wie Ali Smith es so schön ausgedrückt hat.

Der großartige Romane hat es auf die Empfehlungsliste im Guardian geschafft, in der Buchhändler*innen ihre summer reading Empfehlungen vorstellen. Meiner bescheidenen Meinung nach sollte es der Roman auf noch viel mehr Listen (vor allem Preisgewinnerlisten) schaffen – und gleichzeitig in viele Buchhandlungen und Hände…

My Past is a Foreign Country

Zeba Talkhanis memoir mit dem Untertitel A Muslim Feminist finds Herself ist das letzte Buch in meinem aktuellen “Reading in Progress” Post. Es ist insofern anders als die beiden vorangegangenen, dass es ein non-fiction Text ist und aus einer einzelnen Perspektive erzählt wird. Gleichzeitig schreibt aber auch diese Autorin gegen die Vereinnahmung ihrer Geschichte durch andere und die single story, die immer noch viele Vorstellungen bzw. Bilder von Musliminnen im Mainstream prägt.

Zeba Talkhani (right) in conversation with Sarah Shaffi

Zeba Talkhani (right) in conversation with Sarah Shaffi

Zeba Talkhanis Buch ist 2019 bei Sceptre erschienen, einem „literary imprint“ (fiction und non-fiction) von Hodder & Stoughton, das wiederum ein imprint von Hachette UK ist. Ich war Ende Juni bei ihrer Launch Veranstaltung in der Bloomsbury Filiale von Waterstones. Das Buch habe ich tatsächlich eine Minute vor Beginn der Veranstaltung erst fertig gelesen, aber so war dann wenigstens die Erinnerung auch noch frisch!

Zeba Talkhani beschreibt in ihrem Buch ihre Kindheit in Saudi Arabien, ihre Besuche und ihr Studium in Indien, ihr Auslandssemester in Deutschland (in Bremen) und ihr Weiterziehen, Studieren und Arbeiten im UK. Ihren Weg zur self-acceptance und ihren Kampf gegen das Patriarchat und seine Strukturen. (Ich muss gestehen, ich lese nicht oft Memoiren und das ist denke ich auch die jüngste Frau deren Memoiren ich gelesen habe.) Ihr Anliegen, das kann ich glaube ich so sagen, ist es ihre Geschichte selbst zu erzählen. Für sich selbst zu sprechen in Zeiten, in denen ex- und potentielle future-Prime Minister (und nicht wenige sogenannte Feministinnen) immer wieder für und über sie sprechen wollen (und immer wieder alle Musliminnen über einen Kamm scheren).

My Past is a Foreign Country war für mich eine sehr erfreuliche Entdeckung. Ich habe es gerne gelesen, ihre Geduld bestaunt, mich mit ihr gefreut und mit ihr geweint. Ich fand es faszinierend, wie sie ihre eigenen Privilegien und Entscheidungen reflektiert hat. Wie sie mit offenem Rassismus, micro-aggressions, Islamophobie (mit einem schönen Gruß an die nicht gerade offenen Feministinnen in ihrem Umfeld) und Frauenfeindlichkeit umgegangen ist. Wie sie nach und nach entdeckt, dass nicht etwas mit ihr nicht stimmt, sondern das Problem (u.a.) das Patriarchat ist – ein Begriff, den sie erst später entdeckt und dann reflektiert, was es für einen Unterschied macht, ein Wort dafür zu haben, nebst umfangreichen Texten. Später kommentiert sie trocken, dass nicht mal die enforcer glauben, dass das Patriarchat natur- oder gottgegeben sei, sonst würden sie es ja nicht so vehement verteidigen müssen.

Zeba Talkhani: My Past is a Foreign CountrySie meistert auf ihrem Weg nicht wenige Hindernisse und bringt unglaublich viel Mitgefühl für diejenigen auf, die ihr Steine in den Weg legen und nicht gerade zimperlich mit ihr umspringen – im Buch wie beim Launch und auf Twitter. Dass sie dabei nicht mad geworden ist, ist ein Wunder bzw. ihrer unglaublichen Resilienz geschuldet. Das klingt jetzt vielleicht so, als wäre das ein einziges Feiern ihres Kampfes und Weges, aber das ist es nicht. Das Buch gibt auch Momenten des Selbstzweifels, Zögerns und der Schwäche ihren Raum. Doch sie ‘kriegt die Kurve’.  Ihre Geschichte ist geprägt von vielen Perspektivwechseln, Aushandlungen und ihrem Ruhen in ihrem Glauben – der für sie eine große Rolle spielt und den ja nun einige nicht mit einer feministischen Einstellung unter einen Hut zu bringen vermögen. Zeba Talkhani hat es meiner Meinung nach geschafft, ihre Geschichte zu erzählen und für uns Leserinnen und Leser nachvollziehbar zu machen, den platten stereotypen Darstellungen etwas entgegenzusetzen und zu Empathie anzustiften (nicht nur für sich selbst sondern auch diejenigen, die im Buch eigentlich nicht so gut wegkommen, weil sie in ihren Systemen ‘gefangen’ sind). Und das ohne dabei Futter für das misery memoir Publikum zu liefern.

Eine Mitarbeiterin des Verlags kündigte die Launch Veranstaltung mit den Worten an, dass Bücher wie das von Zeba Talkhani bisher zu wenig beachtete Geschichten stärker in den Fokus rücken – und das nicht aus irgendeinem fehlgeleiteten white saviour Impuls (meine Worte), sondern weil sie es verdienen:

“pushing narratives to the centre – where they belong – they are often neglected by the industry.”

Aber das ist dann doch eine Geschichte für ein anderes Mal. Mein Kollege hier in London und ich arbeiten gerade an einem Projekt, das genau das untersucht, i.e. welche Strukturen im Britischen literary field die Texte von people of colour, sagen wir mal, beeinflussen.

 

Soweit für heute. Demnächst dann noch ein weiteres, immer noch nicht abgeschlossenes Leseprojekt (das alte Lied: zu viele Bücher, zu wenig Zeit – und das trotz der langen commute Zeiten in London…), das sowohl in der memoir Kategorie zu Hause ist als auch einer Vielzahl von Perspektiven Raum und Aufmerksamkeit schenkt: Common People, eine Sammlung von working-class Geschichten, geschrieben von gestandenen working-class Autor*innen und newcomers, herausgegeben und überhaupt erstmal ins Leben gerufen von Kit de Waal. Auch hier geht es der single story an den Kragen, auch das wieder ein herausragendes Buch, das hier meinen Weg gekreuzt hat. Aber am Wochenende geht es erst mal nach Harrogate zum Crime Festival – stay tuned!