Die erste französische Buchhandlung in Berlin: Françoise Frenkel, Rien où poser sa tête.

In her review article, Margarete Zimmermann explains the fascinating role of the first French bookshop in early-20th-century Berlin. She follows the fate of the shop’s founder, Françoise Frenkel, who had to flee Nazi persecution and whose memoirs have recently been rediscovered and published in a new edition.

Die erste französische Buchhandlung in Berlin: Françoise Frenkel, Rien où poser sa tête. Préface de Patrick Modiano, Gallimard, Coll. „Arbalète“, Paris 2015

Bücher, zumal solche aus den „années noires“ des 20. Jahrhunderts, haben oft ganz besondere Schicksale. Zuweilen erreichen sie uns mit großer Verspätung, auf verschlungenen Wegen, „comme la lettre d’une inconnue, oubliée poste restante depuis une éternité et que vous recevrez par erreur, semble-t-il, mais qui vous était peut-être destinée“[1] – so Patrick Modiano in seinem Vorwort zu den Ende 2015 erschienenen Erinnerungen von Françoise Frenkel, der Inhaberin der ersten französischen Buchhandlung in Berlin.

Frenkel hatte ihre Erinnerungen an die Jahre in Berlin und ab 1939 im besetzten Frankreich, als eine stets von Deportation bedrohte polnische Jüdin, bereits 1943/44, in unmittelbarer Reaktion auf das Erlebte, am Vierwaldstätter See niedergeschrieben. Im September 1945 erschienen sie im Verlag Jeheber in Genf und in Frankreich im savoyischen Annemasse, doch das Buch gerät schnell in Vergessenheit; seine Verfasserin stirbt 1975 in Nizza. Aber ein Flohmarktfund des Schriftstellers Michel Francesconi bringt es dort wieder ans Licht. Dass es ein vergilbtes, unscheinbares Buch mit allen Merkmalen eines verstaubten Restpostens, altmodischer Diktion und Interpunktion und seinem das Lukas-Evangelium zitierenden Titel zu einer fulminanten Neuveröffentlichung bringt, überrascht. In letzter Instanz ist dies Thomas Simonnet zu verdanken, dem Herausgeber der Reihe L’arbalète bei Gallimard. Dort erscheint Rien où poser sa tête exakt 60 Jahre nach seiner Erstpublikation, jetzt auf der Suche nach einem neuen Lesepublikum.

book cover: Françoise Frenkel, Rien où poser sa tête.

Françoise Frenkel, Rien où poser sa tête. Préface de Patrick Modiano, Gallimard, Coll. „Arbalète“, Paris 2015.

Von der Existenz einer französischen Buchhandlung in Berlin wusste bislang nur die Historikerin Corine Defrance, die hierzu 2005 einen Aufsatz veröffentlichte. Sie unterschätzte allerdings deren Lebensdauer: Nicht von 1923-1933, sondern von 1921-1939 behauptete sie sich in einem zunehmend aggressiv-fremdenfeindlichen, am Ende virulent antisemitischen Umfeld. Defrances Quelle ist die Korrespondenz des Germanisten Pierre Bertaux, der sich 1927 mit der Arroganz eines Normalien leicht verächtlich zu den Betreibern dieser Buchhandlung äußert: „J’étais attendu: le maître et le maîtresse de maison sont Monsieur et Madame Reichenstein [sic] – des Russes, des Galiciens, ou quelque chose comme ça. Une impression étrange et inquiétante: une salle avec ces deux, tels des croque-mots d’une entreprise de pompes funèbres. Un petit assortiment d’assez bons livres. La critique se vend bien ici.“[2] Spätere Äußerungen – so bezeichnet er Frenkel als „vieille gale de la Maison du Livre“[3] [„alte Schreckschraube der Maison du Livre“] – fallen nicht freundlicher aus.

Allerdings findet sich in dem Deutschlandbuch des Journalisten Jules Chancel, Dix ans après. Un mark = 6 francs von 1928 die längere Beschreibung eines deutsch-französischen Festes in eben dieser Buchhandlung und ein kleines, ungemein wohlwollenderes Portrait der Buchhändlerin. Später dokumentieren juristische Schriftstücke aus einer Kanzlei in Berlin-Charlottenburg, wo sie sich im Sommer 1959 aufhält, ihren erfolgreichen Kampf um eine Entschädigung für ihre in Paris deponierte und von der Gestapo konfiszierte letzte Habe aus Berlin. Sie war verwahrt, so die „Anlage zur Anmeldung von Rückerstattungsrechtlichen Ansprüchen gegen das Deutsche Reich“, in einem „Mädler-Rohrplattenkoffer mit Messingringen, innen Schubladen und 3 Abteilungen“ und enthielt: einen „Nutriafellmantel“, maßgeschneiderte Kleidungsstücke, Unterwäsche, 3 Paar Schuhe von „Stiller“, eine Bernsteinkette, Bettzeug, eine Hand- und eine Aktentasche, Dinge des alltäglichen Gebrauchs (Heizkissen, Tauchsieder) sowie zwei Reiseschreibmaschinen. So entsteht das Phantombild einer schriftstellerisch ambitionierten, nicht mehr ganz jungen eleganten Frau bürgerlichen Zuschnitts, ebenso pragmatisch wie gut organisiert.

Qui est-ce?

Wer ist diese schreibende Buchhändlerin ohne Foto, die sich zu Beginn ihres Buchs, kurz vorstellt, wenn sie unter dem leicht pompösen Titel „Au service de la pensée française en Allemagne“ die Geschichte ihrer Buchhandlung erzählt? Sie stammt aus einem bildungsbürgerlichen Milieu und wird 1889 als Frymeta Idesa Frenkel, genannt Françoise Frenkel, in Piotrków in der Nähe von Lódz geboren. Von verschiedenen Deutschlandaufenthalten vor 1914 ist die Rede, von einer Ausbildung, vermutlich in Berlin, bei dem Komponisten Xaver Scharwenka und an der „université féminine de Leipzig“ (p. 25). Entscheidend sind aber die Jahre – von etwa 1912 bis 1918 – des Studiums an der Sorbonne (wo sie promoviert), in den Bibliotheken von Paris und der Arbeit als Praktikantin bei einem Buchhändler der rue Gay-Lussac.

Danach entschließt sie sich, Buchhändlerin zu werden, zunächst in Polen, optiert dann aber für Berlin, bestärkt durch den Germanisten Henri Lichtenberger. Später wird sie auch von Oswald Hesnard, dem Deutschland-Berater von Aristide Briand, unterstützt. 1921 ist es so weit, die Buchhandlung Maison du Livre français eröffnet erst in der Kleiststraße 13, dann zieht sie in die Passauer Straße 27 um und schließlich in die Passauer Str. 39a (heute steht dort ein Anbau des KaDeWe) – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Orten des „russischen Berlin“[4]. Die Maison erreicht bereits durch ihre Lage an der Schnittstelle von Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf einen wichtigen Teil ihrer Kundschaft – Nabokov wohnte z.B. dort. Vermutlich überlebt sie nur deshalb in den sehr kargen Inflationsjahren. Hilfreich ist auch die starke Nachfrage durch eine (überwiegend weibliche) Klientel aus Polen, der Tschechoslowakei, der Türkei, aus Norwegen, Schweden und Österreich – französische Leser/innern sind zunächst rar, da noch nicht wieder nach Berlin zurückgekehrt. Deutsche Leser/innen besuchen ihre Buchhandlung erst zögerlich – dann begeistert und zahlreich. Gemeinsam bilden sie ein „public curieusement mêlé“ (p. 27).

Vieles in der Geschichte ihrer buchhändlerischen Aktivitäten bleibt bewusst unklar, und ihr Mann Simon Raichenstein wird an keiner Stelle erwähnt. Geschieht dies, um ihn und andere 1943/44, als sie diese Erinnerungen niederschreibt, nicht zu gefährden?[5] Auf jeden Fall wird, so erfahren wir, die Maison du Livre français zu einem kulturell-gesellschaftlichen Zentrum, mit Lesungen, Sprachkursen und deutsch-französischen Bällen. In ihren Regalen findet sich anspruchsvolle Gegenwarts- und Kinderliteratur, des weiteren stehen dort bibliophile Ausgaben sowie Literatur- und Modemagazine. Doch den wohlgemeinten Rat des Botschafters Pierre De Margerie, fortschrittlich-pazifische Autoren wie Romain Rolland oder Victor Margueritte durch nationalistisch-konservative Schriftsteller wie Maurice Barrès zu ersetzen, befolgt Frenkel nicht.

Bereits 1933 wird die Maison boykottiert, und Simon Raichenstein verlässt Berlin in Richtung Paris. Noch schwieriger wird es ab 1935 durch Devisenprobleme, Eingriffe der Zensur, politischen Druck (auch französischer Hitler-Sympathisanten). Es wird fast unmöglich, sich inmitten eines xenophoben und aggressiv antisemitischen Umfelds als polnische Jüdin – und ohne materielle Unterstützung durch die französische Botschaft – für die literarische Kultur des ‚Erbfeinds’ einzusetzen. Die Brutalität der „Reichskristallnacht“, den Brand der Synagoge und jüdischer Geschäfte von November 1938 verfolgt sie auf der Straße, dann von ihrer nahegelegenen Wohnung und schließlich auf den Stufen vor ihrer wie durch glücklichen Zufall verschonten Buchhandlung. Spätestens dann erkennt sie, dass es keine Zukunft im nationalsozialistischen Berlin gibt und flieht im fast letzten Moment, im Juli 1939, mit einem Sonderzug der französischen Botschaft nach Paris.

Fluchtbewegungen und Widerstandsgeist

Bedeutend ausführlicher als der erste Teil fällt der anschließende Bericht ihrer Zeit in Paris und ihres Lebens in dem zunächst unbesetzten Teil Frankreichs aus. Es ist die Geschichte einer zwar mit einem Einreisevisum für die Schweiz ausgestatteten, doch immer bedrohten polnischen Jüdin, der Frankreich nach 1940 ein Ausreisevisum verweigert. Es ist zugleich die Geschichte von verlorenen, verirrten, zurückgekehrten Koffern und von immer neu ansetzenden Fluchtbewegungen, die sie nach Vichy, Avignon, Nizza, Annecy, Grenoble führen, von Verstecken in diesen Städten oder außerhalb, von generösen und habgierigen, mutigen und furchtsamen Personen, bei denen sie eine Zeit lang unterkommt, die ihr weiterhelfen oder sie verraten. Zentralfiguren sind in Nizza der unerschrockene Frisör Marius mit seiner Frau und in Avignon „mon bon professeur et ami P.“ (p. 24), vermutlich ihr Doktorvater, oft in der Rolle eines Schutzengels. Zugleich liest sich dieser zweite Teil über weite Strecken als Hommage an den Widerstandsgeist der Savoyarden.

Erst im dritten Anlauf, kurz vor Ablauf ihres zum letzten Mal verlängerten Laissez-passer für die Schweiz, gelingt ihr, blutend, in zerrissener Kleidung, aber überglücklich über die ‚grüne Grenze’ die Flucht in die Schweiz. Das Buch endet mit dem Blick auf den eidgenössischen Soldaten, der ihr letztes Hab und Gut trägt – „le lamentable baluchon, compagnon de mes fuites successives qui contenait tout ce qu j’avais emporté de France, hormis un cœur désolé et fatigué à mort…“ (p. 258).

Der Flohmarktfund von Nizza hat sich zu einer der wichtigsten Neuerscheinungen des französischen Bücherherbstes von 2015 gemausert und setzt einen starken Akzent innerhalb einer mehrheitlich nombrilistisch-unhistorischen französischen Gegenwartsliteratur. Françoise Frenkels Erinnerungen Rien où poser ma tête bieten zweierlei: eine aufregende Entdeckungsreise in das Berlin der Zwischenkriegszeit, mit Einblicken in bislang weitgehend unbekannte Räume, Agenten, Prozesse und Medien des Kulturtransfers, und: einen Bericht aus weiblicher Perspektive von Flucht und Verfolgung im besetzten Frankreich der années noires. Ähnlich wie die Wiederentdeckung von Hélène Berrs Journal. 1942-44 (2008) und die Neuauflage von Léon Werths 33 jours (2015) zeigt auch die ‚Wiederkehr’ von Frenkels Buch, dass die Okkupationszeit nicht aufhört, in die französische Gegenwart hineinzuwirken – und dass es vermutlich noch viele ‚Wiedergänger’ dieser Art geben wird.

Margarete Zimmermann

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[1] Françoise Frenkel, Rien où poser sa tête. Préface de Patrick Modiano, Paris, 2015, p. 10.

[2] Pierre Bertaux, Un normalien à Berlin Lettres franco-allemandes (1927-1933). Ed. H. M. Boc,, G. Krebs, H. Schulte, Asnières, 2001.– Übers.: „Man erwartete mich: die Inhaber sind Herr und Frau Reichenstein, Russen, Galizier oder etwas in der Art. Ein merkwürdiger und beunruhigender Eindruck: ein Raum mit diesen beiden, wie Totengräber eines Beerdigungsinstituts. Eine kleine Auswahl ziemlich guter Bücher. Literaturkritik verkauft sich hier gut.“

[3] Ibid., p. 156.

[4] So befindet sich in unmittelbarer Nähe die russische Verlagsbuchhandlung Gliksman, ein russisches Café (Passauer Straße 3 bzw. 27-28) und die russisch-französische Buchhandlung Obrasowanie in der nahen Nürnberger Str. 65. Detaillierter hierzu: Karl Schlögel, Das russische Berlin. Ostbahnhof Europas, Berlin 1999, 2014.

[5] Simon Raichenstein gerät in Paris in die Razzia von 1942, wird über Drancy nach Auschwitz deportiert und dort im August 1942 ermordet.

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Prof Dr Margarete Zimmermann has recently retired from Freie Universität Berlin, where she taught at the Centre for French Studies. She is an expert in French and Italian literature and culture, with major research and publications in the following areas: contemporary French literature and the French literary field, the interwar period, and medieval and early modern French and Italian literature and culture. For for more information about her work, please consult her website: http://margarete-zimmermann.de