From London to Leipzig – Bookfairs, Projects, Politics

Sandra van Lente berichtet von einigen Eindrücken auf ihren Kurzreisen zu den Buchmessen in London und Leipzig, von Forschungsprojekten, Buchorchestern und engagierten Gastlandautorinnen.

London Book Fair – die letzte vor dem großen B*?

Eindrücke von der Londoner BuchmesseLetzte Woche war ich nach langer Zeit zum ersten Mal wieder auf der Londoner Buchmesse. Früher fand sie mal im April statt, jetzt wurde sie für 2019 und 2020 in den März vorgezogen. Die Angst vor einem ungeregelten Brexit und der gleichzeitige Versuch, das unaufgeregt wirken zu lassen? Maybe.

Es war auf jeden Fall gut was los, eigentlich wie bei meinem letzten Besuch in 2017. Verglichen mit Leipzig oder Frankfurt mag sie vielleicht eher niedlich wirken – zumindest nicht so riesig und trubelig – aber sie ist ja auch eigentlich nicht für das Publikum gedacht, sondern für Agent*innen und Verleger*innen und den Verkauf von Rechten und Lizenzen.

„Rethinking ‘Diversity’ in Publishing: A Cultural Industries Perspective”

Ich bin ehrlich gesagt vor allem für eine Veranstaltung gekommen: Dr. Anamik Sahas Gespräch mit Philip Jones, Redakteur beim Bookseller. Anamik und ich starten im Mai ein gemeinsames, vom AHRC gefördertes Projekt mit dem Titel „Rethinking ‘Diversity’ in Publishing: A Cultural Industries Perspective”. Cover des Writing the Future Reports, herausgegeben von Spread the WordDas Projekt kann man als eine Art follow-up des „Writing the Future“ Reports (link) sehen, der 2015 viele unbequeme Wahrheiten ans Licht brachte, nicht zuletzt diese wenig überraschende: “British publishing is not diverse in either what it publishes or whom it employs.” Zu den Ergebnissen der Untersuchung gehörte auch, dass authors of colour immer wieder als Kommentator*innen für alle people of colour eingetütet und kritisiert wurden, wenn sie diesen Erwartungen nicht entsprachen. Und mehrfach wurde die Annahme sichtbar, dass weiße Leser*innen nicht an Geschichten mit POC Protagonist*innen interessiert seien, daher das angenommene Publikum für authors of colour und ihre Geschichten auf POC limitiert betrachtet wird und dann die Auflagen und das investierte Geld sehr begrenzt sind (wenn die Publikationsentscheidung überhaupt erstmal positiv ausfällt). Das ist nur ein sehr kleiner Einblick in den „Writing the Future“ Report – er ist auf jeden Fall eine Auseinandersetzung wert.

Zwar ist seit dem „Writing the Future“ Report schon einiges passiert, aber es ist wie immer noch Luft nach oben. Im Sommer 2018 stellte eine vom Arts Council finanzierte Studie fest, dass nur 1% der Protagonist*innen in Kinderbüchern eine person of colour ist (4% des gesamten Figureninventars). Was das für die Entwicklung des Selbstwertgefühls der Lesenden und auch das Verständnis der Zugehörigkeit zu Kulturen oder Gesellschaften bedeutet, wird gerade auf vielen Kanälen und interessanterweise auch in unterschiedlichen Ländern diskutiert, auch in Deutschland (dazu demnächst mehr im Literary Field Kaleidoscope).

Anamik Saha im Gespräch mit Philip Jones

Dr. Anamik Saha im Gespräch mit Philip Jones, Redakteur beim Bookseller

Anamiks und mein Projekt geht in eine ähnliche Richtung, hat aber zum Ziel die Strukturen, Produktionsbedingungen und deren Auswirkungen auf die Repräsentation von people of colour im Verlagsprogramm, Marketing, Buchhandel und auf der Textebene zu untersuchen. Es geht uns dabei nicht darum mit dem Finger auf diejenigen zu zeigen, die unserer Meinung nach noch viel zu lernen hätten, sondern um eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Buchindustrie, das Hinterfragen der aktuellen „Diversity“-Initiativen und dem Zusammenzutragen von good practice Beispielen, wie differenziertere Repräsentation und Chancengerechtigkeit gelingen kann.

Die erste Veranstaltung über das Projekt auf der LBF war auf jeden Fall schon mal sehr gut besucht und wir hatten im Anschluss noch viele Gespräche mit interessierten Menschen aus dem Publikum. Offiziell startet das Projekt am 1. Mai (der, wie ich gerade herausgefunden habe, im UK kein Feiertag ist) und ich werde in Zukunft sicher noch häufiger im Literary Field Kaleidoscope darüber berichten.

Buchmesse Leipzig: Ahoj Indies!

Von London kam ich dann über Berlin nach Leipzig. Hier war am Freitag der Messetrubel schon in vollem Gange. Hier bin ich gelandet, um den Relaunch der Buchorchester-Website (siehe Blog vom 31. Mai 2019) sowie einen Ausschnitt der bis zur Frankfurter Buchmesse wachsenden Ausstellung zu sehen und zu feiern. Das Ziel des Buchorchesters ist es, sichtbar zu machen, wie viel Arbeit in einem fertigen Buch steckt und wie viele Hände und Köpfe daran beteiligt sind. Und nicht zuletzt auch die vielen oft unsichtbaren Frauen im Buchmarkt. Das Angebot ist niedrigschwellig und lädt dazu ein, spielerisch zu entdecken, wer und welche Aufgaben sich hinter den jeweiligen „Instrumenten“ verbergen. Hier geht es zur neuen Website: www.buchorchester.de

Großartige Indies

Zoë Beck, Verlegerin von CulturBooks

Zoë Beck (re), CulturBooks

Bei CulturBooks und mikrotext schaue ich auch immer wieder gerne vorbei, um zu schauen, was es Neues gibt. Bei CulturBooks hat mich Zoë Beck von ihrer Begeisterung für Lesley Nneka Arimah angesteckt, so dass ihr Roman Was es bedeutet wenn ein Mann aus dem Himmel fällt (link zum Buch) nun auf meiner Wunschliste steht. Großartig auch Helen Oyeyemis Buch What is Not Yours is Not Yours (Picador), ins Deutsche übersetzt von Zoë Beck und als Was Du nicht hast, das brauchst Du nicht bei CulturBooks erschienen.

Und bei mikrotext bin ich vor Kurzem dem „Freundeskreis“ beigetreten, einem Abo für das eBook-Programm, das mich ab sofort für 2,50 Euro im Monat mit den Neuerscheinungen versorgt (link zum Freundeskreis) und mich auch in England auf dem Laufenden halten wird. So habe ich beispielweise früh schon den Titel Als Weltbürger zu Hause in Sachsen von Hussein Jinah und mit Sebastian Christ entdecken dürfen (link zum Buch), „eine wahre Geschichte über Mut und Engagement. Ein Anti-Sarrazin“ und ein Beitrag zur Differenzierung darüber, wie über Rassismus und „den Osten“ gesprochen wird.

Preis der Leipziger Buchmesse

Auch der Preis der Leipziger Buchmesse ging an einen Roman aus einem unabhängigen Verlag: Anke Stelling wurde der Preis in der Kategorie Belletristik für Schäfchen im Trockenen, erschienen im Berliner Verbrecher Verlag, verliehen. So haben sich viele gleich dreifach gefreut: Preis und Aufmerksamkeit für eine Autorin, einen indie Verlag und einen Roman mit weiblichen Protagonistinnen. Dankenswerterweise hat mir Britta Jürgs, Verlegerin des unabhängigen Berliner AvivA-Verlags, gleich die aktuelle Virginia (link zu Virginia FrauenBuchKritik) in die Hand gedrückt und mir die Rezension von Lisa Schürmann empfohlen. Ich muss gestehen, dass mich Bodentiefe Fenster damals leider so gar nicht angesprochen hat und ich es beim Anlesen belassen habe. Nun bin ich aber auf der Messe beim arte Stand in ein Gespräch mit Anke Stelling hineingestolpert und schon ist die Buchwunschliste wieder ein Stückchen länger.

Ahoj Tschechien!

Broschüre des Gastlandes TschechienIn diesem Jahr war Tschechien Gastland der Leipziger Buchmesse (link zum Programm) und wartete mit 55 Autor*innen, 70 Neuerscheinungen und 130 Veranstaltungen an 4 Tagen auf. Ich muss gestehen, dass meine Kenntnisse der tschechischen Gegenwartsliteratur nicht so berühmt sind. Die Literaturszene scheint aber wesentlich quirliger und lebendiger als die Fußballmannschaft am Freitag…

Anyway, ich habe mir am arte Stand das Interview von Bára Procházková mit der Autorin Radka Denemarková angehört (zu sehen war nicht viel, die Veranstaltung war erfreulicherweise sehr gut besucht). Radka Denemarkovás Roman Ein Beitrag zur Geschichte der Freude ist gerade bei Hoffmann und Campe erschienen (link zu ihrem Profil auf den Leipziger Gastlandseiten) und prangte auf einer Buchmessen Liste der „sieben Bücher, die Sie nicht verpassen sollten“. Ich bin ja kein Riesenfan solcher Listen, aber nach der Veranstaltung mit Radka Denemarková bin ich zumindest ein Fan von ihr geworden.

Ganz kurz zum Inhalt des Romans: er startet wie ein Krimi und mit einem vermeintlichen Selbstmordfall, der beim Ermittler Zweifel auslöst. Im Laufe der Geschichte stößt besagter Ermittler auf Frauen, die ein Archiv führen, das Gewalt gegen Frauen dokumentiert – seit dem Zweiten Weltkrieg und bis heute. Mehr sei hier nicht verraten; das genügt aber auch schon um nachzuvollziehen, was die Autorin über die schwierige Produktionsgeschichte des Romans erzählt. Sie berichtet, wie sich Verlage schwer taten mit der Einordnung ihres Texts. Ein Kriminalroman? Erfüllt aber nicht die klassischen Erwartungen. Doch etwas ganz anderes? Und dann auch noch ein feministischer Text! Die Autorin erzählt uns, wie auch im Lektorat und von verschiedenen Stellen immer wieder die Warnung kommt, das wolle doch keiner lesen, Feministinnen möge doch niemand.

Radka Denemarková im Gespräch mit Bára Procházková

Radka Denemarková (li) im Gespräch mit Bára Procházková

Radka Denemarková lässt sich jedoch nicht beirren und bleibt hartnäckig. „Jedes Thema braucht eine eigene Sprache und Form,“ erklärt sie, und die hat sie für Ein Beitrag zur Geschichte der Freude für sich (und viele positiv darüber schreibende Kritiker*innen) auch gefunden. Sie ist wohl bekannt für ihr politisches Schreiben und ihre Systemkritik. „Ich bin kritisch zu Tschechien, weil ich Tschechien mag“, sagt sie dazu. Und dass sie in Tschechien bleiben will wenn bzw. weil es schlimmer wird. Sie sieht bereits jetzt bei einigen Schriftsteller*innen Angst vor Konsequenzen und eine Art der Selbstzensur, die sie problematisch findet. Ebenso bedauert sie aber auch das Fehlen einer mitreißenden Vision von Seiten der Europäischen Union, als sie auf die tschechische Politik und den Brexit angesprochen wird.

Wenn sie über Politik, Feminismus, Symbolik und die Rolle von Schriftsteller*innen spricht, spürt man ihre Leidenschaft und ihr Engagement. Klar sei es manchmal schwierig, gibt sie zu, aber es gebe auch immer Möglichkeiten, man müsse sie sich allerdings erarbeiten. Und am Ende zitiert sie Astrid Lindgren mit den Worten: „Es gibt kein Gesetz, dass alten Frauen verbietet, auf Bäume zu klettern.“

What’s next?

Nach den vielen Eindrücken und noch mehr zurückgelegten Kilometern in London und Leipzig bin ich dankbar für eine kleine Verschnaufpause. Die nächsten spannenden Literaturveranstaltungen stehen aber auch schon in Kürze an – dieses Mal aber glücklicherweise in Berlin:

Am 29. März lädt das Literaturhaus Berlin ab 19:30 Uhr zur „Brexit Wake“ mit Lesungen bis um Mitternacht, dem bis vor Kurzem noch geplanten Austrittszeitpunkt bei fehlender politischer Einigung (link zur Veranstaltungswebsite) Denn „wer, wenn nicht die Schriftsteller*innen von heute, könnte all die absurden, utopischen und dystopischen, die freiwillig und unfreiwillig komischen, realen und surrealen Elemente des Brexit besser darstellen?“

Und vom 4. bis zum 7. April findet im Babylon Berlin wieder das African Book Festival statt – in diesem Jahr mit dem Untertitel „Transitioning from Migration“. 2019 wurde das Festival von Tsitsi Dangarembga aus Zimbabwe kuratiert und das Programm verspricht erneut sehr abwechslungsreich und interessant zu werden (link zur Veranstaltungsseite).

And last, but not least: am 30. März 2019 ist deutschlandweit wieder indiebookday! (link zur Website) Frohes Stöbern und Lesen!

 

Zum Weiterlesen: